„Unterhaltung“

„Unterhaltung“

Bist du gut unterhalten – oder bist du süchtig?

Bist du gut unterhalten – oder bist du süchtig?

In David Foster Wallace's klassischem Roman „Unendlicher Spaß“ gibt es merkwürdigerweise einen Film, der eine zentrale Rolle in der Handlung spielt. Der Film ist so hypnotisierend und fesselnd, dass jeder, der ihn sieht, jegliches Interesse an allem anderen verliert und nur noch den Film sehen möchte. Das Hauptthema von „Unendlicher Spaß“ ist, dass es sowohl für Einzelpersonen als auch für die Gesellschaft als Ganzes gefährlich sein kann, sich zu sehr auf Unterhaltung zu konzentrieren. Und ein Großteil der über 1.000 Seiten des Buches handelt von der Absurdität einer solchen Gesellschaft (also mehr oder weniger unsere Gesellschaft).

Wallace schrieb das Buch in den frühen 1990er Jahren, als es im Fernsehen gerade einmal ein Dutzend Kanäle gab und Videospiele die Köpfe kleiner Kinder eroberten (ich war eines dieser Kinder). Menschen kauften noch Programmzeitschriften, um zu wissen welche Blockbuster-Filme um 20:15 zu sehen war. Damals hatte Wallace gerade ein Entzugsprogramm für Alkohol- und Drogenabhängige absolviert. Doch obwohl er zum ersten Mal in seinem Erwachsenenleben clean war, bemerkte er etwas Merkwürdiges: Er konnte nicht aufhören, fernzusehen.

Was dir der Artikel bringt!

• Verständnis für die Problematik der Unterhaltungsfixierung: Du erhältst Einblicke in die Gefahren, die entstehen, wenn sich Einzelpersonen und Gesellschaften übermäßig auf unterhaltsame Medien konzentrieren.
• Erkenntnis über die Medienoptimierung auf Suchtgefahr: Der Artikel erklärt, wie moderne Medien und Streamingdienste darauf abzielen, süchtig machende Inhalte zu produzieren, anstatt künstlerische oder qualitativ hochwertige Produkte zu liefern.
• Kritik an der Stagnation in der Unterhaltungsindustrie: Du erfährst, wie Hollywood und Streamingdienste sich wiederholender, abgedroschener Handlungsstränge bedienen, um das Zuschauerengagement zu sichern, und wie dies die Innovation behindert.
• Einblick in die Verbindung zwischen Politik und Aufmerksamkeit: Der Artikel bietet eine Analyse, wie politische Akteure ähnlich wie Medien und Unterhaltung versuchen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu maximieren, oft auf Kosten sinnvoller politischer Arbeit.
• Bewusstsein für eigene Medien- und Konsumgewohnheiten: Du wirst angeregt, deine eigenen Konsumgewohnheiten kritisch zu reflektieren und die Mechanismen zu erkennen, die dazu führen, dass du dich unbewusst in eine Suchtkultur einfügst.

 01 Unterhaltung oder süchtig machende Medien?

Wallace schien zu verstehen, dass mit der Vervielfältigung der Medien auch der Wettbewerb um Aufmerksamkeit zunimmt. Und aus diesem Grund werden die Inhalte nicht mehr auf Schönheit, Kunst oder gar Unterhaltung optimiert – sondern speziell auf ihre Suchtgefahr. Wenn es zwei Fernsehkanäle gibt, muss sich der Sender keine Sorgen darüber machen, dass du wegklickst, sondern er macht einfach die bestmögliche Sendung. Aber wenn es 200 Kanäle gibt, muss dieser Sender plötzlich alles tun, um dich so lange wie möglich bei der Stange zu halten. Wallace sah dieses Problem Jahrzehnte im Voraus kommen, und mit seinem persönlichen Verständnis von Sucht, das auf seinen Erfahrungen mit der Genesung beruhte, schien er die Suchtkultur zu begreifen, der wir alle bald angehören würden.

Heute verwechseln wir diese süchtig machenden Medien regelmäßig mit Unterhaltung. Es gibt eine psychologische Funktion tief in unserem Gehirn, die dir sagt: „Also, ich habe gerade sechs Stunden damit verbracht, mir diesen Scheiß hereinzuziehen, es muss mir also gefallen.“ Dabei ist das Drehbuch in Wirklichkeit ein mittelmäßiger Schrott, und du wirst stundenlang durch Cliffhanger und schlechtes Drehbuch manipuliert, damit du weiter zusiehst. So wie du dazu verleitet wirst, viel mehr durch die sozialen Medien zu scrollen, als du eigentlich möchtest, wird auch dein Gehirn dazu verleitet, nur noch eine Folge anzuschauen, um herauszufinden, ob der oder die wirklich gestorben ist oder nicht.

 02 Bringen Streamingdienste noch etwas Neues?

In den sozialen Medien ist dieses „Es macht süchtig, aber irgendwie gefällt es mir auch nicht“-Phänomen bereits erkannt und bis zum Gehtnichtmehr diskutiert worden. Aber in anderen Bereichen der Medien und Unterhaltung haben wir es noch nicht begriffen. Die offensichtlichen Schuldigen sind hier Streamingdienste und Hollywood. Wie viele mittelmäßige Filme aus dem Marvel-Universum brauchen wir noch, um das zu beweisen? Wie viele schlechte Star Wars-Ableger? Wie viele schlechte Netflix-Serien, bei denen jede Folge mit einem Cliffhanger endet? Alle beschweren sich, dass Hollywood keine neuen Ideen mehr hat.

Nun, es gibt einen Grund, warum nichts Neues gemacht wird: Die endlose Erweiterung derselben abgedroschenen Handlungsstränge hält die Leute bei der Stange. Ständig mit dem Nostalgiegefühl der Leute zu spielen und klassische Genres neu zu mischen, ist eine risikolose Methode, um Zuschauerzahlen zu garantieren. Ähnlich verhält es sich mit der Musik. Marktforschungen zu Musik-Streaming-Diensten haben schon seit einiger Zeit ergeben, dass die Leute mehr Zeit damit verbringen, alte Musik zu hören als neue, und der Trend geht in die falsche Richtung. Musikliebhaber stimmen mit ihren Maustasten ab, und diese Maustasten gehen in der Zeit zurück, nicht vorwärts.

 03 Von der Musik bis zu YouTube

Die Popmusik wurde in den letzten Jahren so weit vereinfacht, dass sie nur noch aus ein oder zwei Akkorden und einer einzigen Melodie besteht, die zwei oder drei Minuten lang immer wieder wiederholt werden. Kein Refrain. Keine Bridge, keine Variation, kein Aufbau oder Ausklang. Nur ein endloses Durcheinander eingängiger Klänge, die einer nach dem anderen wiederholt werden. Das liegt zum Teil daran, dass die Ökonomie des Musikstreamings so angelegt ist, dass Künstler nicht den Anreiz haben, die bestmöglichen Songs oder Alben zu produzieren, sondern möglichst viele kleine, einfache Songs, die einen davon abhalten, wegzuklicken. Dadurch ist ein künstlerisches Umfeld entstanden, in dem es besser ist, 200 anständige, hörbare Songs zu haben als 20 brillante Songs.

Ein ähnliches Problem plagt YouTube, wo die größten YouTuber Millionen von Aufrufen erzielen, indem sie immer und immer wieder alberne Dinge tun, wie das Öffnen von tausend Amazon-Paketen oder das Verschenken von Autos an ihre Freunde. Einerseits ist das nicht so interessant. Andererseits klickt man gedankenlos auf das nächste Video und das nächste und das nächste und das nächste. Wenn alles am Engagement gemessen wird, werden die Inhalte auf Suchtpotenzial optimiert. Nicht auf Unterhaltung oder künstlerischen Wert. Nicht auf intellektuellen Gehalt oder Kreativität. Reine, schlichte Sucht. Das bedeutet, dass wir, die Konsumenten, in unserem Leben eine größere Menge vorhersehbarer, weniger innovativer und weniger interessanter Kunst zu Gesicht bekommen.

 04 Kluge Politik oder die gleiche Scheiße?

Im Bereich der Kunst, der Musik, des Films und des Fernsehens ist das wirklich ärgerlich und frustrierend. Jeder von uns muss länger und intensiver suchen, um etwas Neues und Großartiges zu finden. Aber wo diese Optimierung auf Suchtgefahr gefährlich wird, ist ein anderer Teil der Kultur, über den ich sprechen möchte … holt tief Luft … Politik. Die meisten Menschen in Deutschland sind in den meisten Dingen einer Meinung, unsere Politiker finden jedoch immer wieder Wege, Dinge zu tun, die den meisten Menschen nicht gefallen. Viele Experten haben diese Inkonsistenz zwischen den Wünschen der Öffentlichkeit und den Maßnahmen der Regierung auf Theorien über das Vorwahlsystem zurückgeführt.

Andere führen sie auf fest verwurzelte Sonderinteressen oder polarisierende soziale Medien zurück. Aber was ist damit? Politiker – wie Hollywood-Manager, Popstars und YouTuber – werden dazu angehalten, mehr Aufmerksamkeit und Interaktion zu erzeugen. Aber keine großartigen Ergebnisse. Nur mehr Aufmerksamkeit und Interaktion, und zwar ständig. Daher sind ihre Aktionen nicht darauf ausgerichtet, kluge Politik, vernünftige Gesetzesentwürfe oder einen klugen Kompromiss hervorzubringen, sondern unsere Aufmerksamkeit so lange wie irgend möglich zu fesseln, am besten noch nach dem Prinzip „teile und herrsche“. Das bedeutet, sie nutzen Spaltung und Polarisierung, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu lenken und ihre eigene Position zu stärken.

 05 Das Schlachtfeld um Aufmerksamkeit & Schlagzeilen

Auch David Foster Wallace sah das kommen. Der Bundeskanzler verglichen mit dem Roman in „Unendlicher Spaß“ ist wie ein ehemaliger Popsänger, der von seinen Einschaltquoten besessen ist, politische Diskussionen zu langweilig findet und einen Krieg mit Russland nur dann in Erwägung zieht, wenn er in Tarnuniformen auf Fotos gut aussieht. In dem Buch sind terroristische Gruppen allgegenwärtig, denn auf diesem Schlachtfeld geht es nicht um Territorium oder Ressourcen, sondern um die Aufmerksamkeit der Menschen und das Produzieren von Schlagzeilen. Letztlich kann niemand außer uns selbst unsere Aufmerksamkeit steuern. Wir können uns über Netflix, Spotify oder die Politik aufregen.

Aber letztlich sind diese Systeme nur ein loses Spiegelbild unserer eigenen Aufmerksamkeitsgewohnheiten, die auf uns zurückstrahlen. Nun, heute musst du mit deinen Augen und Mausklicks abstimmen. Sieh dir nicht die nächste Folge der Müll-Serie an, die dich ständig mit Figuren reizt, die fast sterben. Hör dir nicht das nächste halbherzige Album mit 20 verschiedenen Zwei-Minuten-Tracks an. Klick nicht auf Clickbait. Scrolle nicht gedankenlos durch TikTok und YouTube und belohne Leute nicht für aufmerksamkeitssuchende Aktionen. Und sieh dir keine Politiker und Experten an oder reagiere nicht auf sie, die versuchen, endlos über Lieblingsthemen zu schwafeln, aber nie wirklich etwas auf die Reihe bekommen.

 06 Abschluss

In dem chaotischen und unterhaltsamen Durcheinander von „Unendlicher Spaß“ gibt es die Geschichte von einem trockenen Alkoholiker, der buchstäblich lieber sterben würde, als in seinen Alkoholmissbrauch zurückzufallen. Inmitten dieses futuristischen Chaos aus kurzer Aufmerksamkeitsspanne, wahnsinnig süchtig machender Unterhaltung und neurotischen Teenagern erscheint die Erzählung vom trockenen Alkoholiker wie eine seltsam konventionelle Geschichte des persönlichen Triumphs über die eigenen Dämonen und der Fähigkeit, sich für andere aufzuopfern.

Was klar zu erkennen ist, ist, dass Wallace die Figur des trockenen Alkoholikers als Beispiel dafür schuf, was wir alle anstreben sollten: genesene Süchtige – Menschen, die von heute auf morgen von jeglicher Sucht loskommen und die von der Droge „Unterhaltung“ abschalten können. Menschen, die ihre eigene Aufmerksamkeit kontrollieren und damit sinnvoll lenken können und nicht dem endlosen Strom gedankenloser Beschäftigung zum Opfer fallen. Menschen, die sich aus dem Getümmel der politischen Sucht erheben und Substanz statt Großspurigkeit verlangen können. Und das nicht nur für uns selbst, sondern auch für das Wohl aller anderen.